Reisen bildet, sagt man. Das ist wohl auch der Sinn von Schulfahrten. Unsere Kursfahrt des Leistungskurses Mathematik führte uns in diesem Jahr nach Krakau in Polen, leider – so dachten wir anfänglich – nicht in eine der sonst üblichen Metropolen wie London, München oder Berlin. Leider? Ehrlich gesagt, hatte (fast) niemand von uns 25 Schülern eine Vorstellung von dem, was uns in Krakau erwarten würde. Im Prinzip war es eine ganz übliche Klassenfahrt, mit einem interessanten Programm, wie einer zweitägigen Stadtführung, und viel Spaß miteinander.
Schon bei der Stadtführung wurden wir gewahr, wie sich die Stadt durch die deutsche Besetzung verändert haben muss. Von einem Teil dieser Geschichte erzählen heute fast nur noch steinerne Zeugen: der jüdische Friedhof mit seinen Grabsteinen, die zwei musealen Synagogen; daneben nur vielleicht noch ein paar Lokale, die koscheres Essen anbieten. Die Stadt Krakau nannten vor dem Zweiten Weltkrieg ca. 32.000 Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft ihr Zuhause; heute, nach dem Krieg lebt nur noch ein Bruchteil von ihnen, ca. 150 hier. Von einem wirklichen jüdischen Leben, das hier vor dem 2. Weltkrieg pulsierte, kann heute in Krakau keine Rede mehr sein.
Aber wir drangen noch weiter vor, zurück in die Geschichte. Wir besichtigten das jüdische Ghetto, deren Mauer zum Teil noch steht. Wir betraten dort eine Apotheke, wohl alt, aber nicht aus einer anderen Welt, die damals der einzige Ort war, worüber die Juden im Ghetto – trotz strengen Verbotes – mit Menschen außerhalb des Ghettos kommunizieren konnte. Manchmal gelang es sogar ein Kind über die Apotheke nach draußen zu schmuggeln und vielleicht zu retten.
Schindlers Listewar ein berührender Film, spannend und voller interessanter Charaktere. Der Besuch der Reste der Fabrik aber dort beim jüdischen Ghetto in Krakau – samt einer darin befindlichen Ausstellung – führte uns vor Augen, dass die Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft mitten im 20. Jahrhundert mit einer unvorstellbaren Tyrannei konfrontiert waren, wirklich, real. All das war uns vor unserer Reise vollkommen unbekannt.
Und natürlich besuchten wir auch Auschwitz. Wir sind still und stumm geworden, als wir uns mit den historischen Überresten des Völkermordes und der Vernichtung so vieler jüdischer Menschen konfrontiert sahen. Kann man das vergessen? Darf man das vergessen machen? Kann man an dem Holocaust zweifeln und alles nur für eine perfide Inszenierung ausgeben? Wenn man den Haufen abgeschnittener und abrasierter Haare von Männern, Frauen und Kindern sieht, die übriggebliebenen Schuhe, Koffer, Kleidungsstücke, Gebrauchsgegenstände; wenn man sich nur für kurze Zeit in eine der Folterzellen oder vor die Erschießungswand stellt? Uns wurde das alles zur geschichtlichen Realität. Ist das auch unsere Geschichte?
Geschichte kann wie Geschichte interessant sein; in Krakau, im Ghetto und in Auschwitz musste wir uns mit Geschichte auseinandersetzen, als ein Teil unserer, unser aller Geschichte. Jeder muss dann wohl selbst wissen, ob er bereit ist, diese Geschichte für sich persönlich anzunehmen und sie so nah an sich herankommen lassen will; ob man sie als Teil der eigenen Identität akzeptiert. Wir jedenfalls waren davon sehr beeindruckt, auch bedrückt. Gleichwohl haben wir diese Konfrontation mit der Geschichte auch als Befreiung erlebt, als eine Befreiung, die allein Versöhnung möglich macht.
Marcel: Ich selbst komme aus Polen und lebe nun in Deutschland, in einem Land, das im Zweiten Weltkrieg Polen überfallen und diese Verbrechen an polnischen und europäischen Juden in Polen begangen hat. Es war für mich wichtig zu sehen, wie sich meine Mitschüler dieser deutschen Vergangenheit gestellt haben. Ich habe mich nach meinem eigenen Platz in dieser Geschichte gefragt, gerade wenn ich daran denke, wie gegenwärtig in Polen wieder antisemitische und menschenverachtende Stimmungen hochkochen. Erinnern ist vielleicht die beste Art, um die Zukunft nicht zu verspielen.